Es kommt oft anders, als man denkt. Oder: Verschätzt. Oder: Philosophie des unerwarteten Unbekannten.
Eine Geschichte für sich
Am letzten Stand. Meine einzige Wahrnehmung: ein sich aufbäumender Kessel – weiß, von grauem Fels umschlossen. Mein einziger Gedanke, so ohne jeden Sinn, wie als hätte der Urtrieb eine Stimme: Scheiße! Nachholen. Zu Zweit auf dem Südkopf. 60 Höhenmeter unter dem Gipfel der Roten Flüh. Die einzige Lösung für den Rückweg: ein von vornherein geschriebenes Gesetz: Abseilpiste. Doch wo? Und wie hingelangen? Zwei Felsgestalten zu unserer Linken. Filigraner Turm und wuchtiger Klotz. Irgendwo im Sommer der Weg. Eisenklammern. Zwischen Turm und Klotz, vor dem Turm? Ich schlinge Brot und spüle mit Wasser nach. Schnell hinunter, bevor die Angst. Angst – nicht sich dieser ergeben. Seile werden zusammengeknotet. 120m Hoffnung. Kein Stand nach 120m, kein Fels, den ich erreiche, kein Riss, keine Sanduhr, kein Köpfl – Kein bedeutet Sieg der Angst. Ich quere die Steile. Manchmal der Untergrund: Gras, Schotter. Sonst glänzend weiß. Stufe um Stufe haken die Schuhe. Doch stimmt die Richtung? Nach 40 Metern der Blick zurück. Das Gipfelkreuz zum Greifen nah. Dahinten Drahtseile. Ich kehre um. Zurück zum Stand. Meine verschwiegenen Gedanken: den Gipfel. Später dann mit dem Abstieg befassen. Oder vom Gipfel den Normalweg ins Gimpelkar. Doch wenn der Schnee gefroren? Ich starte ein zweites Mal. Diesmal das weiße Steil hinauf. Ein Stock gibt mir Halt wie ein Pickelschaft. Plötzlich um die Ecke. Kälte schlägt mir entgegen. Schlagartig vom Frühling ins Eis. Fels, der von gefrorenem Gras und blankem Eis zusammengeklebt wird. Über mir der Metallstift einer Verankerung: mein Ziel! Behutsam auf allen Vieren. Endlich: Stand. „Steigen!“, schreie ich aus dem Dunkel in die Sonne, gegen den Wind. Sie kommt. Zittrige Stimme. Tränen? Ihr ist kalt. Nie wieder, will sie. Meine Angst: Klingt auch meine Stimme zittrig? Einen kühlen Kopf bewahren. Keine Panik. Nur wer die Nerven behält. Der die Nerven versucht zu behalten, spricht klar zu ihr. Anweisungen. Der Gipfel, mein Geheimnis der letzten Minuten – verworfen für ihr, unser Leben. Ich quere den Hang erneut, oberhalb, am Fels. Am Kopf der Steile. Tiefer Schnee. Nach 60 Metern der Schrei: Knoten! Ich warte. Mein Hals so trocken. Keine Gedanken, schon gar nicht ans Fallen. Weitere 20 Meter. Am filigranen Turm. Der Blick hinab: die Eisenklammern! Der gesuchte Fixpunkt. Rettung! Doch wie hingelangen? Zurück. Sie soll vor. Meine Beruhigung für sie: von oben gesichert. Mein Hinuntergelangen: kein Gedanke daran. Sie geht. Stufe um Stufe schlägt sie sich den Hang hinab. Ein kurzes Rutschen: ich halte das Seil. Rede ihr zu. Verspreche Sicherheit, an die ich selber gern glauben möchte. Sie quert. Ein Fels ragt aus dem Schnee. Ich brülle ihr zu: Schlinge! Sie folgt. Sie geht weiter. Als sie irgendwann die Eisenklammern sieht, ruft sie. Kein Zittern mehr. Nach 100 Metern: Stand. Ich kann an mich denken. Der Karabiner in der Schlinge blockiert das Einziehen. Ich folge ihren Spuren. Nichts denke ich, keine Zeit. Nur die Sicherheit des nächsten Schritts. Endlich am Stand bei ihr. Nur noch Abseilen, triefende Seile, Bäche in der Wand. Keine letzte Angst mehr. Kein Schnee verdeckt die Abseilringe. Es ist spät. Doch wie zur Belohnung, zur Feier unseres Lebens, glüht die Abendsonne die Gipfel.