Großer Daumen über das Koblat mit Abfahrt zum Giebelhaus

„Der Daumen ist ein echter Skitourenklassiker.“ (Strauß, Die schönsten Skitouren Allgäuer und Lechtaler Alpen)

 

Ab ins Schatzkästlein

„Können Sie mir die fünf Euro in Münzen wechseln?“ – „Bitte!“ *heißt das* – „Bitte?“ *ich bin artig* – „Bitte.“ – „Danke.“ *und danke, dass ich gleich sechs Euro Parkgebühr in den Automaten werfen darf, damit ich mit Ihrer Gondel fahren kann.*

In Trier verlieren die Magnolien schon wieder ihre Blütenblätter. Wir verteidigen dick bestiefelt und behost in der noch kurzen Schlange der überpünktlichen Montagmorgen-ist-Pistenskifahren-Rentner unseren Warteplatz. So umfliegt einen gleich selbst die süße Leichtigkeit des Pensionistenlebens. Trotzdem bleiben wir zu schwer, um bergwärts zu fliegen und so muss uns die erste Bahn pünktlich acht Uhr dreißig Richtung Nebelhorn hieven.

In der Gondel eng gedrängt. Die Gerüche mischen sich vor der eigenen Nase ständig neu wie die Wortfetzen der Small-talk- und der Ich-bin-der-Beste-Geschichten vor den Ohren. Unangenehm. Es ist keine Platzangst. Eher ein Hauch Misanthropie. Die Maus inspiziert derweil aus der Vogelperspektive die Pistenabfahrt. Seit gestern Abend scheint es in ihrem Kopf zu hämmern: Schwarze Piste, Schwarze Piste, Schwarz. Vor lauter Schwarz-Angst hat sie nur ein halbes Toast am Morgen runterbekommen.

Zwei Tage Skitouren stecken in den Knochen. Der Plan am dritten Tag: Bergstation Koblatlift unterhalb des Nebelhorngipfels. Über das flache Koblat unter den Wengenköpfen vorbei auf den Großen Daumen. Abfahrt wie Aufstieg. Abfahrt wie Aufstieg heißt ab dem Bereich der Lifte: Schwarze Piste. Meine Geldbörse beschleicht das Gefühl, der Maus auch noch die Talabfahrt per Lift besorgen zu müssen, um ihr Jammern zu dämpfen. Aber nach zweimal zweiundzwanzigfünfzig für die Bergfahrt – Ebbe im Portemonnaie.

Derweil Endstation. Beim Liftausstieg auf die eisige Piste hätten wir uns beide fast hingelegt. So müssen die einzigen Tourengänger mit ihren Rucksäcken rüberkommen. Als absolute Profiskifahrer. Wir schieben es auf unser mangelndes Lifttraining in dieser Wintersaison und hoffen, dass uns niemand gesehen hat… ;-)

Nach fünfzig Metern liegt die Piste hinter uns. Wir tauchen ein in die unzivilisierte Winterwelt. In der Morgensonne, unter blauem Himmel, umgeben von Stille und von dem weiten weißen Meer aus Bergen schieben wir uns durch die sanften Dünen des Koblats. Der nächtlich durchgefrorene Schnee beginnt ganz langsam aufzufirnen. „Bei Firn ist die Tour am schönsten.“, heißt es im Skiführer. Wir sind auf meinem Traumziel für diese Saison. Geträumte Landschaft, geträumtes Skifahren. Na fast, denn geträumtes Skifahren heißt leider nicht „Abfahrt wie Aufstieg“, sondern tausendzweihundert Höhenmeter Abfahrt zum Giebelhaus. Eine der Touren im Allgäu, die man in seinem Schatzkästlein haben muss. Nicht, dass ich die Maus zu etwas drängen würde… Der am Vortag lautstark vereinbarte Plan hieß Abfahrt wie Aufstieg, also mit Piste nach Oberstdorf. Oberstdorf liegt genau entgegengesetzt vom Giebelhaus. Mein heimlicher Plan zum Umsturz dieses Planes ist jedoch schon in der Nacht bis ins letzte Detail geschmiedet. Und so fange ich an – während die Maus wie ich umseelt vom Glück und dem Frieden der Berglandschaft eine Skispitze neben die andere setzt: „Willst du wirklich die schwarze Piste runter? Piste? Vereiste Piste! Und dann die Ski tragen (wegen Schneemangels)? Und dann müssten wir ja noch das flache Koblat wieder zurückschieben. Nochmal auffellen? Nochmal eineinhalb Stunden? Willst du das wirklich?“

Und der Schnee ist so fluffig, die Oberschenkel krampfen zum Glück nicht mehr so stark – und *zack* willigt die Maus ein: Abfahrt zum Giebelhaus. Jetzt erst sind wir auf der Traumtour der Saison.

Der steilere Hang zum Daumen-Gipfel. Das Herz hüpft vor Freude beim Anblick der unverschämt vielen unverspurten Linien. Gipfel Großer Daumen: im Norden der Frühling, das flache Land wie ein Strand; im Süden der Winter, die Berge wie die Wellenkäme eines tobenden Meeres.

Die Abfahrt bis zur Käseralpe – keine zerfurchten Hänge, geträumte Landschaft, geträumtes Skifahren/ Boarden, geträumter Schnee. Die letzten Meter kneifen uns wieder wach: Krokusse, Alpenglockenblümchen und der erste Enzian. Die Ski auf den Schultern mit der Erinnerung an den Winter laufen wir in den Frühling hinein zum Giebelhaus. Es ist nicht so, als ob wir Skistiefel oder Snowboardboots an den Füßen hätten – eher so, als würden wir seit Stunden schon ein heißes Fußbad nehmen, dessen Hitze ein Tauchsieder ständig erneuert.

Seitdem wir heute Morgen das Skigebiet verlassen haben, sind wir keinem begegnet außer uns selbst. Wochentagsskitouren während andere Frühjahrsputzen. Es muss auch ein Traum sein, dieses Pensionistenleben.