„Vergessener Klassiker… verläuft durch eine der höchsten Allgäuwände.“ (Pasold, Kletterführer Allgäu)
Triathlon mit Panne
Zum Klettern im Allgäu stehe ich so: man darf es nicht übertreiben. Denn die vielgelobte und wirklich eindrucksvolle Blumenvielfalt rührt irgendwoher. Und die Verwitterung einer bestimmten Art brüchig-bröselig-schuttigen Kalks ist den Blümchen besonders zuträglich. Der Vorteil des Allgäuer Gesteins ist immerhin, dass es bei Kontakt mit dem behelmten Kopf nicht selten in seine Einzelteile zerspringt, anstatt mit durchdringender Kraft den Getroffenen in seine Einzelteile zu zerlegen. Nach mehreren solcher Erlebnisse in den vergangenen Jahren hatten wir dem Bruch abgeschworen und uns lieber vermeintlich festen Felsgebieten zugewandt.
Doch dieses Jahr zog es mich gleich mehrmals ins Allgäu. Warum? Der Reiz des Verbotenen? Skitourenblicke mal im Sommer sehen? Vielleicht auch das. Aber vor allem: im Allgäu sind noch Erlebnisse zu finden, die andernorts durch Hütten, Seilbahnen oder Autostraßen vernichtet wurden. Manche nennen das Abenteuer. Ich nenne es triathletische Erlebnisse. Und ein Triathlon ging so:
So eine Art Grippe hatte uns nacheinander befallen. Nennen wir sie doch: Reggaemylitis. Und es ist Sommer. 35°C Außentemperatur. Mal ausnahmsweise sogar beständiges Wetter ohne Gewitter, Schauer oder Graupel. Doch die Reggaemylitis macht uns schlapp. Die Schneck-Ostwand muss wohl warten. Flüchtig im Kletterführer gestöbert, „eine der höchsten Allgäuwände“, Nordwand, Klassiker, 550 Meter, 5-. Da schleppt man sich doch auch mit Schniefnase hoch. Bloß eins sei vorneweg festgelegt: das Brüllen der Seilkommandos muss entfallen – Halsweh.
Auf der Fahrt. Man ist so verwöhnt von den Alpenausflügen in die Schweiz, denken wir uns so, als wir zwischen Karlsruhe und Ulm-West im fünften Stau stehen und sich die angepeilten viereinhalb Stunden inzwischen der Zehn-Stunden-Marke nähern (OK, mit Pinkelpausen und Milchshake). Immerhin gelang es Peter Tosh („Doctor said son, you have a Reggaemylitis.“) den Amoklauf abzuwenden und in ein gemäßigtes Kopfnicken umzuwandeln. Zelt aufgebaut, Gurgeln, Lutschtabletten, Nasenspray, Taschentücher, Schlaf gut, Du auch.
Und dann geht es schon los. Um fünf natürlich, denn im Bayerländerweg auf den Westlichen Wengenkopf zählt vor allem eins: du musst der Erste am Einstieg sein, sonst hast du ganz schlechte Karten, die Tour unbeschadet zu überstehen. Steinschlag eben.
Das Retterschwanger Tal – Nabelschnur zur Einsamkeit. Fahrverbot für Autos, kein Pendelbus, keine Übernachtungshütte. Vor dem Klettern steht das Radeln, weil ja Triathlon. Und ein paar Höhenmeter mit einer züchtigen Steigung am Ende gilt es obendrein noch abzuspulen. Prost! Da merken wir gleich, wie schlapp wir heute wirklich sind.
Das Tal hat ein Ende. Wie eine Mauer zieht dunkel die hohe Felswand vom Großen Daumen bis zum Nebelhorn hinüber. Eindrucksvoller ist es in manchen Karwendel-Klassiker-Gebieten auch nicht.
Am Einstieg bläue ich der Maus, die vermutlich keinen Plan hat, wo wir gerade sind, ein: Allgäuer Alpen, Bayerländerweg, Westlicher Wengenkopf, Weh Weh, West-lich-er Weng-en-kopf. Nur für die Bergrettung, denn mich beschleicht gerade so eine Übelkeit, während ich die Bleigewichte an den Füßen die erste Länge hochschleppe. Aber in Wirklichkeit überfliege ich die erste Länge, denn wirklich berühren will man eigentlich gar nichts. Es könnte ja abfallen… Am Stand nach der zweiten Länge frage ich mich, ob ich der Maus nochmal erklären soll, dass das Seil, falls es sich nicht mehr bewegt, ja fest in der Klemme hängt und sie dann immer noch hochprusiken kann. Ach was solls, das dauert zu lange. Einfach weiter, einfach durch. Neben Peter Tosh geht mir vor allem ein Satz nicht aus dem Kopf, den ich im Vorfeld über diese Route gelesen habe und der immer wieder ein „funny feeling“ erzeugt: „Der Fels ist an den schweren Stellen gut bis sehr gut, doch dazwischen, davor, danach und daneben ist es meist deutlich brüchiger und schuttbedeckt.“ You have a Reggaemylitis!
Und so nimmt das Spiel Länge für Länge seinen Lauf: Griff anklopfen, wackelt, lieber nicht, anderen Griff anklopfen, wackelt auch aber weniger, also Griff halten (bloß nicht dran ziehen), Tritt mit Fuß anhacken, OK, steckt fest, antreten. Und das geht so um die vier Stunden bis nach 550 Metern noch ein Grashang und der Ausstieg warten.
Oben! Wir denken, wir stehen auf dem Gipfel, wollen uns schon erschöpft in die Arme fallen und uns zu einer erneuten, unbeschadet überstandenen Heldentat über die Schultern spucken. Und in lumpigen 2,5 Stunden sind wir zurück an den Rädern, raus aus dieser plötzlich auftauchenden, ungnädigen Sonne, die beim Verlassenen der angenehm temperierten Nordwand nun vom Himmel sticht. Dabei stehen wir gar nicht auf dem Gipfel. Also noch nicht. Das in der Ferne leuchtende Kreuz ist erst der Westliche Wengenkopf. Und noch weiter dahinter leuchtet das Nebelhorn, dazwischen der Hindelanger Klettersteig mit ein paar Auf und Abs, da dahinter der Abstieg zum Gaisalpsee, wieder ein Aufstieg und schließlich der finale Abstieg zur Wankhütte. Es ist, als ob man an einem Ende eines Hufeisens stünde und auf das andere blickt, der Weg dahin aber nur entlang des Eisens führt. Prost würde ich sagen, wenn die Flaschen nicht schon leer wären. Nur nicht entmutigen lassen, durch diese neu gewonnene Einsicht.
Also stolpern wir den Klettersteig entlang, fühlen uns am Nebelhorn mal wieder unglaublich deplatziert, tanken aber trotzdem Milchserum und Apfelschorle für vierzehn Euro (aus der Not macht dort oben niemand Geschäft, die wollen doch nur die Seilbahnfahrer abzocken, dass sich ein paar verdurstete Kletterer dorthin verirren – selber Schuld, wärds doch mit dem Bahnerl hoch gefahren…).
Und dann sieht man die ganze Zeit, dass man nach links läuft, während man doch nach rechts muss. Man sieht…? Die Maus sieht nur den nächsten Schritt, ich immerhin noch Arnika, Alpenrose und Türkenbundlilien.
Die letzten Meter zum Fahrrad. Zieleinlauf. Übermut macht sich breit, denn die Tortur naht ihrem Ende und das langersehnte Hinabrollen auf dem Rad löst so eine „Freude“ aus. Wenn man in unserer Gefühlslage noch Freude empfinden kann. Übermut also: „Also mein Fahrrad sehe ich noch, deins ist weg, musst du wohl die 11 Kilometer laufen.“ Haha… Es sind natürlich beide Räder da. Wie sollten sie auch gestohlen werden, waren sie doch mit einem Schloss gesichert, von dem mancher behauptet, es wiege so viel wie ein ganzes Fahrrad…Doch wie beim Zieleinlauf der Mann mit dem Hammer zuschlägt, der Laufschuh plötzlich verloren geht, die Hose vor den Zuschauern reißt oder einem gerade einfällt, dass man vergessen hat, einen Wendepunkt abstempeln zu lassen, genauso ergeht es uns. Wenn du dir wünschst, alles möge jetzt bitte glatt gehen, dann kommt was dazwischen: Plattfuß am Hinterrad. Nicht bei meinem Fahrrad (natürlich).
Hatte ich gerade noch das Gefühl, ich hätte keine Kraft mehr und wäre erledigt, jetzt baut mein Körper ein paar Muskeln zur Energiegewinnung ab für die ungezählten Flüche, die den Talkessel unter den Nordwänden von Großem Daumen, Wengenköpfen und Nebelhorn minutenlang erschüttern. Hatte ich eigentlich eine passende Luftpumpe dabei??? Der Maus bleibt nur ein verstohlener Blick. Nur den Bären nicht weiter provozieren…: „Ach, deswegen fuhr sich das berghoch schon so zäh…“ Bleib ganz ruhig, Bär… Als die Maus versucht, mit Fachvokabular zu punkten und was von einem „Schleicher“ murmelt… – ganz ruhig, Bär, tue so, als ob du das überhörst…!
Der Kleber für den Flicken ist noch nicht eingetrocknet. Immerhin! In der finalen Reparaturphase verklemmt sich dann noch die Kette. Erst versuche ich es mit Feingefühl, dann mit List, zum Schluss nur noch mit grober Gewalt. Wenn das Teil reißt? Egal, es geht schließlich nur noch bergab, wozu brauchst du da eine Kette? Und wer kann schon von sich behaupten, nahezu kraftlos und mit Reggaemylitis eine genietete Metallkette zerrissen zu haben?
Bevor die Abfahrt endlich startet, muss ich mich noch aus- und anziehen lassen, denn an meinen Händen klebt die schwarze Schmiere der vergangenen fünf Jahre des Fahrrad-Nicht-Putzens und die will ich ungern auf den folgenden 50 Klettertouren an Helm, Jacke, Gurt und Schuhen zur Schau stellen.
Wir rollen das Tal hinaus – ohne Zwischenpause. Denn der Flicken hält. Wie lange wir vom Gipfel bis zum Auto gebraucht haben – ich verschweige es. Es war aber noch hell. Und bei den Ostrachwellen genehmigen wir uns ein ausgiebiges Essen zum Preis von vier Getränken auf dem Nebelhorn. Das Zahlen übernimmt natürlich die Maus. Nicht aus Dankbarkeit für die Reparatur, eher weil ich schamvoll meine Hände unterm Tisch nicht hervorholen will ;-)
Gurgeln, Lutschtabletten, Nasenspray, Taschentücher, Schlaf gut, Du auch.