„Wer aber eine Tour mit Eiger, Mönch und Jungfrau als Kulisse unternehmen will, wird sicher nicht enttäuscht sein.“ (Känel, Plaisir West)
Wann spricht man eigentlich von einer Winterbegehung?
Wann spricht man eigentlich von einer Winterbegehung? Nur an einem kalendarischen Wintertag? Wenn die Temperatur einen bestimmten Grad unterschreitet? Wenn der Fels vereist ist? Winterbegehung heißt für mich zuerst Einsamkeit. Und dann: die Landschaft eine weiße Wüste soweit das Auge reicht. So ein Weiß, dass nicht einmal menschliche Spuren seine Reinheit stören. Und über dem Weiß ein thronender Obelisk aus sonnengetränktem Fels, der einen geradezu anschreit.
Anfang Juni. Bei molligen 20°C. Unser Obelisk waren vier vom Schnee befreite Zipfelmützen, die überschritten werden wollten: Lobhörner.
Es gibt Orte, da könnte man auf der Bank aus sonnenverbranntem Kiefernholz vor so einer der schon Zigmal geschauten Holzhütten sofort niederfallen und sitzen bleiben bis zum Ende seiner Tage. Sulwald ist so ein Ort. Saftig grün leuchten die Wiesen am goldenen Morgen, Farbtupfer von Sommerblumen, der Ahorn treibt im warmen Wind und gegenüber wie mit der Hand zu greifen wuchtig das Eisgestirn aus Eiger, Mönch und Jungfrau.
Mit dem Höhersteigen dreht sich die Jahreszeit zurück: das Gras legt sich wieder, aus dem saftigen Grün wird Braun, Knospen der ersten Frühblüher, und schließlich das Überschreiten der Grenze, wie mit dem Pinsel gemalt: Weiß, Weiß, Weiß!
Was soll man mitnehmen auf so eine Reise in den Winter, deren Ausgang immer ungewiss ist, weil so viele Möglichkeiten. Geht es oder geht es noch nicht? Und damit es geht, packt man den Rucksack für viele Eventualitäten und muss doch irgendwann verzichten. Und irgendwann einsehen, dass man hätte doch lieber Punktpunktpunkt anstatt … . Und „Punktpunktpunkt“ waren Stulpen und Ski und „…“ Kletterschuhe, Doppelseile, Steigeisen und ein gewaltiges Arsenal an Schlingen, Keilen und Cams. Aber dann ist es für jede Korrektur zu spät.
Und unvorteilhaft wie ein tonnenschwerer Elefant mit zarten Antilopenbeinen versinkt man in der weißen Bodenlosigkeit Schritt für Schritt. Und das Ziel ist nicht mehr die Überschreitung oder der Gipfel. Zum einzigen Lebenssinn wird es, den Einstieg als die Wurzel des Obelisken zu erreichen. Und bei jedem Schritt Flüche schreien. Vernunft weicht dem Begehren. In den Schuhen schon ein See.
Der Einstieg ist erreicht. Eine graue Schlangenlinie durchzieht nun die endlos weiße Düne. Erste Quellwolken beginnen sich in der Vormittagsluft zu türmen. Labile Schichtung ist die Angst im Nacken. Und der permanente Druck, geschwind zu sein.
Angeseilt, ein Blick, mögen die Griffe und der Schnee sich in Grenzen halten. Die Überschreitung: länger als gedacht. Da wir teils gleitend klettern, wohl mehr als 9x60m. Rippen aus Kalk – die Orgelwand – Scharte Kleiner Daumen – hüfttief im Schnee eingebrochen, aber die Leisten der Schlüsselseillänge doch erwischt – Zipfelmütze – Abseilen – über vom Schnee noch glatt gekämmtes Gras am Seil – Kleines Lobhorn – Orientierung – finaler Grat – Großes Lobhorn – Gipfelbuchbox mit Schneehaube. Panoramaklettern! Eisberge soweit das Auge reicht – am Boden verwurzelt oder vertikal quellend am Himmel schwebend.
Unterschreitung, Packen, Zurückwanken und dieser abschließende Moment in Sulwald im Stübli: die leere Terrasse der Vorsaison, in den Liegestuhl gefallen, die letzten Sonnenstrahlen gierig eingesaugt wie die kalte Cola, Frühsommerblühen-Eisberg-Kulisse und Jodelmusik aus den zu kleinen Radioboxen. Das passt nur an diesem Ort und jetzt. Und nach 20 Minuten: Gewitter. Und das Gefühl, das bleibt für ein paar Stunden: Zufriedenheit.