„Ausgesetzte, luftige Kletterei in abwechslungsreichem Fels.“ (Mürner, Schweiz plaisir west)
Piranhas in den Beinen
Bir-e – Bir-ne – Bir-anha. Klar, dass man die Rechtschreibung der Killerfische dann etwas transformiert, wenn es sich um einen Gipfel wie die Bire (zu Deutsch: Birne) handelt. Aber ursprünglich war es ja so:
Eigentlich sollte es zum Clean-Climbing ins Jura gehen und eigentlich waren die Cams, Keile und Ball Nuts geschmiert und poliert. Und eigentlich bestimmte die Abschlussarbeit wie schon in den letzten Wochen unser Leben und um IFRS, IAS, GoF und GuV kreiste unser Sein. Und Ende September denkt man sich so: die Saison ist bald vorbei, es hat geschneit, aber so ein paar richtige Berge würde ich schon noch gern sehen wollen. Und da verliert das Jura natürlich gnadenlos, weil Jura, das geht auch noch im Dezember, denkt man sich so.
Und beim Blättern einen Tag vor der Angst über Kandersteg gestolpert: Bire und Üschenen. Lift links, Lift rechts, Zeltplatz in der Mitte, eine Stunde Zustieg – das kann ich auch der Maus zutrauen, die zum Ende der Saison mal „eigentlich wieder ins Klettern reinkommen“ wollte. An der Birne wird die Südostflanke gepriesen als in den „Palmares jedes ambitionierten Alpinplaisirkletterers“ (Mürner, Schweiz plaisir west) gehörend. Aber 400 Meter Schrofen mit Stellen bis zum 5. Grad? Eigentlich suchte ich was Richtiges. Daneben „Biranha“. Etliche Seillängen zwischen 6 und 7 minus – das klingt nach Klettern. Zumeist guter bis sehr guter Kalk – das klingt nach machbar. Ein Stefan Sigrist (kein Rechtschreibfehler) unter den Erstbegehern – das klingt nach: interessant, hab‘ ich schon mal gehört den Namen, hatte der nicht was mit Eis zu tun?
Jedenfalls: alles lässt sich schönreden und so ist der andere Teil des Seilendes rasch überzeugt: Kandersteg – Bire – Biranha.
Die Nacht davor – die plagenden Zweifel. Nach zwei Wochen Regenwetter, in denen Klettern eher die Ausnahme als die Regel war, waren wir und vor allem ich in der Rolle des „Vorsteigers für alle Fälle“ überhaupt fit? Ein paar Mal Fäuste ballen – die Unterarme energielos wie Pudding. Und man wälzt sich hin und her, die Nacht nimmt kein Ende, bis man schließlich müde von den Gedanken doch dem Schlaf erliegt und fünf Minuten später durch das Weckerkreischen aufschreckt. Es geht los!
Hatte ich schon erwähnt, dass wir etwas „umdisponieren“ mussten? Beim Kletterführerdurchblättern sieht nämlich erst mal immer alles toll aus, weil es auf zwei A6-Seiten Platz hat. Doch später stellt man zum Beispiel fest, dass der Liftbetrieb schon in der Nachsaison ist und halb elf am Einstieg für circa 18 Seillängen – so schnell rasen wir die 6er vielleicht auch nicht hinauf. Also nochmal 500 Höhenmeter mehr, aber hey, was solls: eine Stunde für hin, eine für zurück – darauf kommt’s nun auch nicht drauf an…
Es ist schon interessant, dass wir beide an die Südostflanke als Alternative denken, aber kein Wort darüber dem anderen gegenüber verlieren, während unser Herz schon wie wild pumpert. Nach zwei Stunden Zustieg – das Stechen in meinem Kopf rhythmisiert von meinem Pulsschlag, den ich in meinen Ohren höre. Das die Antwort auf die Frage: Und, konditionell fit? Der „Klare-Kopf“-Quergang zum Einstieg: 800 Meter über Kandersteg traversieren wir wie auf dem Ende einer Sprungschanze durch den Mergel – Kalkschutt mit einem hohen Lehmanteil, der den Felsaufbau der Birne wie eine morsche Halskrause umwürgt. Das alpine Leben hat eben auch so seine herben Seiten und ist in vielfältiger Hinsicht ein Balanceakt. Warum haben die Erstbegeher eigentlich 7 Jahre für die Tour gebraucht? Und dann folgt schon die Kletterei – was will man da schon groß schreiben: Platte, Riss, Quergang, Splitter, kleine Tritte, Bäuche, Schrofen, Kamin und Riss, Schrofen, genialer Henkelriss, Schrofen, geniale Hangel mit Verschneidung. Aber der Fels… – „abwechslungsreich“. Wie man beim Durchwaten eines tropischen Gewässers hofft, die Fische seien alle friedliche Vegetarier, wünscht man sich im guten Fels der Birne zu oft, dieser oder jener Tritt oder Griff möge einem jetzt bitte nicht wegplatzen, -bröseln oder -brechen. Aber eine eindrucksvolle Tour: mehrmals luftig über der Tiefe mit Kandersteg und der Kontrast von türkisenem Oeschinensee und den weißen Kuppen von Doldenhorn und Blüemlisalp – zauberhaft. Aber auch eine Route, die man nicht noch einmal haben muss. Aber, aber… – das klingt schon wie ein Fazit. Und angesichts der Uhrzeit (15:00 Uhr) könnte man meinen, es wäre auch eins. ABER: Nicht die „Biranha“ allein war das Ziel, sondern der Gipfel der Birne. Und dieser verbleibende Birnenstil führt über die 2. Hälfte der Südostflanke. Fester Fels, steiles Gras und ein langer Grat. Am gleitenden Seil, nur 4 bis 5 und leichter, aber der Stil der Birne ist fast so lang wie die gesamte Frucht. Was nicht alles auf ein A6-Seiten-Topo passt, wenn man des Öfteren „Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen“ verwendet ;-).
Wir stehen auf dem Gipfel! Und wir hören, wie 1000 Meter tiefer der Lift verstummt. Hören, weil mittlerweile: Sonneneinstrahlung plus feuchte Wiesen gleich Vorhang zu. Und wo jetzt hinab? Laut Topo: „Pfeil hinab.“. Ach so… Es reißt kurz auf, das Wetter nimmt keine Rücksicht darauf, ob man jetzt vielleicht erst mal vor das Gipfelkreuz sacken möchte. Während der Eine gebeugt und barfuß auf Abstiegserkundung geht, klopft die Andere in gekrümmter Haltung die letzten Tropfen aus der Flasche. Gewichtsersparnis – auch ein zweischneidiges Schwert. Die Maus lässt den Gurt an, „damit du mich besser tragen kannst, falls ich nicht mehr kann.“ Ich mag meine Rolle als „Bergpartner für alle Fälle“ ;-). Erst der Abstieg macht den Tag zum Martyrium. Statt dem erhofften stupiden „Lass-mich-bloß-in-Ruhe-ich-will-gedankenlos-nur-einen-Fuß-vor-den-anderen-schleifen“ werden wir überrascht mit stundenlangem angefeuchteten Gelände der Kategorie „abwechslungsreich“ (wie der Fels und die Kletterei in der „Biranha“) – mit mindestens drei Gänsefüßchen. Keinen Schritt ohne Risiko. Der Nebel schluckt immerhin die Abgründe. „Die Birne ist der Stolz von Kandersteg und die Lieblingstour unseres Alt-Bundesrats Adolf Ogi.“ (Känel, Schweiz plaisir west) Dafür glüht bald darauf in einem Fenster die Wyssi Frau.
Nach 13 Stunden auf Tour zurück am Zelt: „Ich bin vorgestiegen, hast du Lust zu kochen?“ Meiner Meinung nach ein guter Deal ;-). Aber um die Piranhas in den Beinen und vielleicht auch die zwischenmenschlichen (prophylaktisch) zu besänftigen: Schnitzel mit Pommes für 31 Franken. Nein danke, wir brauchen keine Vorspeise. Nein danke, und auch kein Dessert.