Pic de Grandval „Café-Dancing Grandval“ 5b+, ca. 170m

„Ob die Bardame in der herrlich skurrilen Bar in Grandval wohl weiß, dass ihr Etablissement als Kletterroutenname verewigt worden ist?“ (Kropac/Silbernagel, Jura keepwild!climbs)

 

Das Keepwild!-Mekka und ich

Ich weiß nicht genau, woran es gelegen hat. Aber geendet hat es damit, dass wir einen Einunddreißig-Euro-Kletterführer von der Stärke einer Tourismusbroschüre in die hinterste Ecke des Automobils warfen und schleunigst in die „Geburtsstätte des Plaisirkletterns“ (Mürner, Schweiz plaisir west) in der Nähe von Reichenbach (das „An-einem-furchtbar-kalten-Wintertag-Jürg-von-Känel“-Reichenbach) fuhren, um uns an den dortigen Sieben-Seillängen-Routen orgiastisch zu ergötzen. Clean und Plaisir – das ist quasi wie Himmel und Hölle.

Wie fing eigentlich alles an? Clean Climbing – vor der Jahrtausendwende hieß das noch: „Die hat aber keen‘n Ring, kannst‘de aber gutte Knoten legen.“ Oder manchmal hieß es eben auch nichts mit „guttn Knoten“ und „muss‘de drüberstehen“. Und die Clean Climber das sind so was wie die Underdogs, die Fische gegen den Strom, die Subkultur im Mainstream und überhaupt… Und überhaupt muss man sich richtig einschätzen können. Es kann der Tag sein oder auch nicht, man kann schlecht drauf sein oder auch nicht, man hat heute die Moral oder eben nicht. Und überhaupt: der Wert der Begehung eines Handrisses wie dem „Leukoplast“ (tapet da jemand wirklich vorher?) im Klettergarten steigt enorm, wenn man die Bohrhaken ignoriert und stattdessen einen Cam nach dem anderen versenkt – gegebenenfalls im Zentimeterabstand, wenn man neben dem Eintausend-Euro-Equipment um die Hüfte auch über die notwendige Unterarmschmackes verfügt.

Hin wie her – zu oft hatte ich mich schon geärgert, wenn neben oberschenkelstarken Sanduhren ein Bohrhakenplättchen blinkte. War ich also ein potentieller Clean Climber, auch in Mehrseillängen-Routen?

Meine erste Begegnung mit dem Kletterführer stand unter keinem guten Stern. Er endete mit der Abbildung eines Felsens. Zuerst dachte ich mir das als Aufruf zum Selbererkunden, Erstbegehen oder was auch immer. Keepwild! und so. Später bekam ich dann mit, dass schlichtweg die letzten 15 Seiten fehlten. Aber der Umtausch – kein Problem. Jetzt also der komplette Führer. Grob über den Daumen gepeilt 10 (in Worten: zehn!) komplett cleane, also bohr- und normalhakenfreie Mehrseillängenrouten im Jura. Wie viel hatte ich dafür bezahlt? Der Rest war entweder kürzer als 20 Meter oder folgte der Devise: „Die Route hat zwar Bohrhaken, aber die nehme ich nicht und lege stattdessen selber was.“ Aha. So was reizt mich ja besonders nicht. Der Rest eben.

Hin wie her – nach immer wieder verschobenem Vorhaben kam der Tag. Vielleicht stand er auch unter keinem guten Stern. Erst die Autofahrt ins Jura, dann erst 17:00 Uhr am Einstieg (im Herbst) für 5 Längen, der Nebel, der die Wand umhüllte, und das erste Laub, das die Griffe und Tritte bereits versteckte. Erwartungsvoll freudig und behangen wie ein Christbaum, dessen Zweige sich unter der Last der Kugeln, Sterne und sonstigen Gedöns‘ bedrohlich biegen, stand ich am Einstieg: „Café-Dancing Grandval 5b+, C1+, 5 Seillängen“ – also niedriges Kletterniveau gepaart mit Top-Placements alle vier Meter. Der Pic de Grandval – als „keepwild!-Mekka des Juras“ (Kropac/Silbernagel, Jura keepwild!climbs) gepriesen. Auch ohne religiöse Vorbildung lag mir die Vermutung nahe, dass das die Crème de la Crème des jurassischen Clean Climbings sein musste. Wozu also sich mit irgendwelchen cleanen Schrott-Routen befassen, wir standen am Einstieg des cleanen best of the best, was unser Einunddreißig-Euro-Kletterführer zu bieten hatte. Und nachdem wir vor ein paar Monaten mal eine geboltete Route am plattig-festen Traumfels des Pic de Grandval geklettert hatten, waren meine Erwartungen an dieses nun allerdings cleane Stück Fels alles andere als niedrig.

Es geht los! 5 Seillängen – 5 Gedanken: Gedanke Länge 1: Es hat immer einen Grund, wenn sich an einem sonst durchgebohrten Felsriegel irgendwo noch kein Bohrhaken befindet. Nicht selten hat das was mit der Felsqualität zu tun. Gedanke Länge 2: Hoffentlich trifft nichts die Maus, weder die abgestorbenen Bäume, die abrutschbereit auf dem Schotter liegen, noch der Schotter selbst. Gedanke Länge 3: So eine Scheiße! So ein Schrott! Gedanke Länge 4: Es ist schon erstaunlich, wie viel man denkt, obwohl sich alles zusammenkrampft: Hoffentlich bricht mir nichts raus, hoffentlich mache ich keinen Abgang, hält die Schlinge um die zeigefingerdicke Kiefer, wenn ich 5 Meter darüber rauskachel, hoffentlich fange ich mir keine Zecke ein, schön wie die Pflanzen jede Felsunebenheit nutzen, um darauf zu siedeln. Gedanke Länge 5: Clean Climbing im Jura – das ist wie Quackenklettern (das jetzt auszuführen, würde allerdings noch etliche Seiten in Anspruch nehmen) – skurril, exotisch, herausfordernd, die Sammelleidenschaft befriedigend. Aber nicht schön.

Positiv sticht hervor: meine zwei größten Befürchtungen haben sich glücklicherweise nicht erfüllt. Die Stände waren immer top (OK, das ist bei der Vielzahl der Kiefern in der Wand auch keine Kunst) und trotz dem eher künstlerisch-skizzenhaften Topo haben wir uns nicht verirrt.

Im Dunkeln stolpern wir durch den Wald zurück nach Grandval. Wir könnten jetzt diskutieren und uns gegenseitig beschuldigen, wer jetzt eigentlich die Taschenlampe im Handschuhfach hat liegen lassen. Aber dieser Frust wäre nur ein Surrogat für das, was wir uns eigentlich zubrüllen: S o  e i n  S c h r o t t ! Und (was man denkt, wenn man mit seiner Geliebten kletternd unterwegs ist): bloß gut, dass dir nichts passiert ist.

Kropac und Silbernagel: ich bewundere euch für euren Enthusiasmus und auch für eure Keep-wild-Konsequenz, aber Einseitigkeit versperrt manchmal den Überblick und führt zu verkrampften Erstbegehungen. Mir habt ihr das Clean Climben mindestens im Jura vergrault.