„1492 – das Jahr der Entdeckung Amerikas, aber auch das Jahr der ersten Klettertour ‚mit künstlichen Mitteln‘.“ (Pause, Im leichten Fels)
Mont Aiguille – Kailash des gläubigen Alpinisten
Eine Sache muss man als gläubiger Alpinist – also als jemand, der an den Alpinismus als Lösung für alle Probleme glaubt – eine Sache muss man als gläubiger Alpinist in seinem Leben getan haben. Man muss um den Mont Aiguille gepilgert sein oder – da scheiden sich die Geister, welches Verhalten von beiden lästerlich ist – oder man muss auf sein Haupt geklettert sein. Und da wir in diesem Krieg der Geister uns für keine Seite entscheiden wollen, sorgen wir für unser alpinistisches Paradies besser doppelt vor: drum herum pilgern und hoch klettern. Denn man kann am Ende nie wissen, welches jetzt die richtige Sache war.
Aber was macht den Mont Aiguille eigentlich zu DEM Berg? – Vieles, doch vor allem das Jahr 1492.
In diesem Jahr kam Karl der VIII., der den treffenden Beinamen „der Freundliche“ trug, auf die Idee, diesen „Mont inaccessible“ zu besteigen. Oder besser: besteigen zu lassen. Ein Untertan musste also ran, der sich mit „wunderwürdigen Maschinen“ (Rabelais, Le Quart Livre) auf den Berg arbeitete. Weil das so schwierig war, blieb man gleich eine Woche auf der Gipfelprärie und ließ sich von den unten Gebliebenen anhimmeln. Zumindest war ja ein Priester mit von der Partie. Und weil 1548 ein gewisser François Rabelais diese Tat im vierten Buch der Abenteuer von Gargantua (und Pantagrue) erwähnte, hatte der Alpinismus eine Geburtsstunde: 1492. Wen interessiert da schon die Entdeckung Amerikas?
Der Mont Aiguille ist ein Tafelberg aus Kalk, „auf allen Seiten rau, gebirgig, steinig, wüst und unfruchtbar“ und von der „Form eines Pfifferlings“ (Rabelais, Le Quart Livre). Kurz: ein Charakterberg.
Der Herbst, wenn sich die internationalen Besucherströme gelegt haben, ist die ideale Zeit, um dem Mont Aiguille zu Leibe zu rücken. Und der Zeltplatz, auf dem man natürlich mutterseelenallein ist, weil Franzosen nur im Hochsommer campen, bietet die ganze Nacht den Blick auf das begehrte Ziel umgeben von Vollmond und Sternen. Himmlisch, was? Da möchte man kein Auge schließen.
Wir hatten uns nicht den Weg der Erstersteiger von 1492 auf die Fahne geschrieben. Zu leicht? Zu viele Menschen? Verschandelt durch die Seile an manchen Stellen, die „wunderwürdigen Maschinen“ der Neuzeit? – Von allem etwas. Außerdem war der Weg von 1492 ein Nordweg und wer seine Frau liebt, bestraft sie nicht mit einer Nordwand im Herbst.
Also blieb für uns das Gegenteil von Nord, der Südpfeiler, „Pilier Sud“, im Bereich des akzeptablen Restrisikos. Ein Klassiker aus den 50ern, in dem es ein paar krumm geschlagene Bohrhaken mit rostigen Muttern gibt und ganz viele (ebenfalls rostige) Normalhaken. Und als Sahnehäubchen oben drauf winkte der Fels noch mit Steinschlag in den oberen Längen und „rocher delité“, zu Deutsch: „abblätternden“ Fels. Prost!
Zur Kletterei kann ich nicht viel schreiben, man muss es eben selbst gemacht haben. Aber irgendwie bekam ich beim Blick durch meine Beine hinab in die Tiefe und zu den letzten drei „Rostgurken“ nie das Bild aus dem Kopf, wie im Falle des Falles sich der Reißverschluss öffnet, also ein Haken nach dem anderen oder der Haken mit dem ihn umgebenden Fels geflogen kommt. Aber gegen diesen Fall der Fälle ist man ja schon gut gewappnet, wenn man nicht auf die Idee kommt, die Griffe wie beim Äpfel pflücken zu gebrauchen. Aber ich übertreibe vielleicht gerade: wenn man über der Schwierigkeit steht und einen Blick dafür hat, welche Felspartien besser bloß gestreichelt werden wollen, kann man eine sehr schicke Route im luftigen Ambiente durchsteigen.
Der zweite Tag galt dann der „Tour du Mont Aiguille“. Weil die Tourismusstrategen nämlich mit der Idee gescheitert waren, den Mont Aiguille durch einen vollständigen Klettersteig wirklich jedem zugänglich zu machen und dadurch zu entweihen (Glückwunsch!), wurde die Umrundung als Alternative kreiert. Man umpilgert also in weitem Bogen den Berg der Berge und kann sich so gut davon überzeugen, dass er wirklich auf jeder Seite eine steile Felswand sein Eigen nennt. Als unsere Pilgerrunde sich dem Ende neigt, am Col de l’Aupet, spielen wir noch Schnick-Schnack-Schnuck, was ich dummerweise gewinne. Macht einen Drei-Stunden-Bonus quer durch den Vercors Nationalpark oder die Erweiterung der „Tour du Mont Aiguille“ zur „Torture du Mont Aiguille“. Immerhin gibt es neben weiteren beeindruckenden Blicken auf den Mont Aiguille noch ein weiteres Stück Geschichte. Und zwar nicht nur die vom Karl, dem den Alpinisten freundlich Gesonnenen, sondern die, wofür der Vercors steht: die Geschichte der Résistance. Und so schreiten wir an den Steinmännern entlang, die von den verschiedensten Geschossteilen gekrönt sind, und fragen uns, warum der Alpinismus eigentlich keine Pflichtreligion ist und warum nicht jedes Land einen Mont Aiguille hat, um den die Menschen pilgern und dran hochklettern können, um Zufriedenheit zu erreichen, anstatt Energien damit zu verschwenden, wie man dem anderen wohl am besten auf die Mütze hauen könnte.