„Plaisir ohne Bohrhaken.“ (Silbernagel/Blum, Best of keepwild!climbs) – Doch das ist nur die halbe Wahrheit – denn das ganze, minutiös nacherlebbare Kopfkino für hundertprozentige Nachkletterbarkeit gibt’s nach den Bildern ;-). In schwarzer Schrift – wie es der schwarze Meister, der Pizzo Nero, verlangt.
Knusper, knusper, Knäuschen, wer knabbert an meinem Häuschen…
Pizzo Nero Südgrat – keepwild! für „Anfänger“
„So… morsch…“ – „Morsch! … Das Wort habe ich gesucht!“, erwidert die Maus und lehnt sich zufrieden zurück in ihren Beifahrersitz, während das Auto Sonntagabend (oder mittlerweile doch schon Montagmorgen?) in Richtung der heimischen Federbetten rollt. Aber das Abenteuer – zumindest aus der Sicht zweier Bürotiere und Spaßkletterer war es ein Abenteuer – startete ja ganz anders:
Jedes Jahr eine Route aus dem „Best of keepwild!climbs“ – diese Flausen hatte sich der Bär in den befellten Kopf gesetzt. Vielleicht lag es ja daran, dass man sich mit steigenden Lebensjahren verstärkt an die Jahre erinnert, in denen man mal jünger war. Und jünger sein hieß: Sandstein und Knotenschlingen – und manchmal nur Sandstein (ohne Knotenschlingen). Und so ähnlich ist keepwild!: Klettern ohne Spuren zu hinterlassen. Eine echte Keepwild!-Route ist eine Route ohne fixes Material, das heißt vor allem: ohne große Sicherheit gewährleistende Bohrhaken. In richtig echtem keepwild! finden sich auch keine Normalhaken, keine Schlingen und keine festgestürzten Keile. Aber es wird in der (Achtung:) „Szene“ noch als keepwild! akzeptiert, wenn sich auf 500 Klettermetern vier Normalhaken und drei Abseilschlingen finden lassen – also wenn man sie findet.
Nachdem im letzten Jahr die Keepwild!-vierzehn-Stunden-Tour „Fünffingerstöck Südwestgrat“ zur Halbtagestour degradiert wurde, dachten sich Maus und Bär in diesem Jahr: Dann nehmen wir doch diesmal gleich eine als Halbtagestour ausgewiesene Halbtagestour: „Pizzo Nero Südgrat“. Die Facts: 4a/ZS-/C1/5h. Heißt übersetzt: Pillipalle-Klettern / Pillepalle-Zustieg mit Rückzugsmöglichkeiten an mehreren Stellen während der Tour / Sicherungsmöglichkeiten, die einem Placement-Blinden sogar sichtbar sind / maximal fünf Stunden für das Unterfangen (inklusive Zu- und Abstieg!). Halbtagestour für Anfänger quasi. Ist ja schon fast unter unserem Niveau…
Die obligatorische Internetrecherche vorab brachte zwei Ergebnisse: eine Begehung mit dem Hinweis „ideale Ausbildungstour“ (so schreibt es auch der Kletterführer) und ein Bericht von einem Wanderer, der welche gesehen hatte, die sich am Südgrat zu schaffen machten . Das ist auch keepwild! – wenige Suchmaschinen-Treffer sind immer ein Garant für wenige Begehungen und das erhöht die Chance, während der Kletterei seine Ruhe zu haben und das mögen Maus und Bär ja ganz besonders. Keine Seilschaft vor einem, die einen bremst; keine Seilschaft hinter einem, die einen jagt. Also: Pizzo Nero – warum nicht? Übung schadet nie.
Als wir am Freitagabend vom Nufenenpass auf den fünf- oder sechszipfeligen (kommt ganz darauf an, ob man den Gipfelzipfel als eigenständigen Zifel zählt) Südgrat des Pizzo Nero starren, sind Maus und Bär erstmal erschrocken: Die Kaltfront hatte auch das Tessin nicht verschont und obschon die Schneefallgrenze höher als in den Nordalpen lag, so ist der Grat doch ordentlich überzuckert. Die dunklen Wolken, in die sich der Gipfelzipfel hüllt, verstärken die bedrohliche Ansicht dieses ansonsten ganz zahm aussehenden Grates. Und nun? Das Würfeln der Optionen beginnt: Am nächsten Tag warten, bis die Sonne hoffentlich den Schnee weggetaut hat und erst am Nachmittag einsteigen? Aber was, wenn die Vormittagssonne dazu nicht ausreicht oder die frostigen Temperaturen das schnelle Abtauen verweigern? Verschenkter Tag? Die Zweifel nagen… Schließlich eilen wir noch im letzten Abendlicht durch die Wiesen, bis wir einen Blick auf die Cassina Baggio werfen können. In deren Südwand ist kein Weiß erkennbar. Der Bär geht auf Nummer sicher und hat unser Kletterziel für den nächsten Tag gefunden: Cassina Baggio Südwand – Bohrhakenklettern im festen, erst plattigen, dann griffig-steilen Granit. Vierzehn Seillängen erlesenster Genuss – Klettern kann so schön sein… Nur das Klettergarten-Feeling durch die vielen Leute, das stört schon irgendwie. Immerhin verteilen sich die Menschlein ganz gut in der Wand.
Am Samstagabend dann, zufrieden über ein paar abgesammelte Klettermeter an der Cassina Baggio, pilgern wir zum kleinen Seelein mit Blick auf den Pizzo Nero Südgrat. Der Kocher wird angeworfen, bald gibt es die Stärkung, die uns für den morgigen Tag fit machen soll (wobei: Halbtagestour – brauch‘ man eigentlich nur die Hälfte essen). Dazu wärmt die Abendsonne vor der kalten Nacht ordentlich durch, das Licht taucht die Landschaft, die sich im Juli zwischen Winter und Sommer noch nicht so recht entscheiden will, in warmes, gelbes Licht. Es ist ein Ort und eine Stimmung, die man sich gar nicht mehr wegwünschen möchte. Und eine Oase der Stille. Eigentlich richtig romantisch, bis… … … – bis auf die Raketenteile der Schweizer Armee, über die man gelegentlich stolpert. Und bis auf den Pizzo Nero Südgrat. Romantisch, bis auf den Pizzo Nero Südgrat? Wie meinst du das jetzt? Schau: Das ist das Schlimmste von allen Dingen: wenn du viel Zeit hast, die geplante Tour zu beobachten. Das Ping-Pong-Spiel im Kopf beginnt:
Einstieg in der Scharte zwischen Vorzipfel und Zipfel 1 – das war leicht zu finden.
Zum Einstieg auf der Westseite im Schnee – okay, da sollte man mal besser noch die Steigeisen und die Gartenharke mitnehmen, ist am Morgen bestimmt gefroren.
Zipfel 1 – sieht steil aus und Blockgrat – ??? Aber wird schon gehen. Sieht von unten ja immer alles viel furchtbarer aus…
Zipfel 2 – kleiner Pfeiler? Unsichtbar. Dafür immer noch Schneeflecken auf der Platte und viele dunkle Stellen darunter, vor allem in dem, was sich als Riss vermuten lässt und wo die Route entlangführen soll. Aber 3b-Riss und dann Rampe – also das macht der Bär doch auch, wenn da ein Wasserfall hinunterfließt, oder? Über die in den Schnee gezeichneten Spuren, die die Scharte vor Zipfel 1 ansteuern, um dann aus der Scharte nach Zipfel 1 über das Schneefeld am Fuß des Grates wieder hinabzuführen, unterhalten sich Maus und Bär nicht. Menschenspuren? Abbrecher nach dem ersten Zipfel? Wegen den unmöglichen Bedingungen an Zipfel 2? Tierspuren sind das, Tierspuren…! Bestimmt von den Schafen oder Steinböcken oder so. Außerdem: Menschenspuren – die wären doch abwärts von der Scharte nach Zipfel 1 knieschonend geradewegs hinabgerutscht und nicht so elegant schräg den Hang hinabgeschritten. Ne, ne: eindeutig Tierspuren. Tiere – Menschen – Tiere – Menschen – Tiere – Abbrecher – Tiere – Abbrecher …. – das wird die Losung der folgenden nächtlichen Stunden.
Zipfel 3 – sieht steil aus. Schlüsselseillänge für 4a – drei Fragezeichen, so von der Ferne geurteilt.
Zipfel 4 und (Gipfel)-Zipfel 5 – 3a-Platten. Da wird’s dann eh gegessen sein.
Wir steigen mit der tiefersinkenden Sonne noch etwas höher, die Wände der Türme werden dabei immer steiler, die weißen und dunklen Flecken am zweiten Zipfel immer größer. Dieser zweite Zipfel… Tiere – Abbrecher – Tiere… … …
Der nächste Morgen: Tiere – Abbrecher – Tiere – Abbrecher – … weiße und dunkle Flecken … Zipfel 2 … Wir schlafen erstmal aus. Halbtagestour – da muss man nicht in der Kälte um sieben am Einstieg stehen. Oh, fühlen sich Maus und Bär heute gerädert vom Plaisir-Klettern gestern… Gut, dass wir (wir?) heute nur so was Pillepallemäßiges ausgesucht haben… Nach dem Frühstück in der Sonne (Tiere oder Abbrecher oder Tiere oder Abbrecher – … weiße und dunkle Flecken … Zipfel 2): „Hast du Internet?“ – „Ne…“ Der Versuch zu kneifen und den optisch bedeutend beeindruckenderen Pizzo Gallina als Wander-Alternative dem Pizzo Nero vorzuziehen, scheitert also schon mal am Mangel an Informationen. Tiere oder Abbrecher oder Tiere oder Abbrecher – … weiße und dunkle Flecken … Zipfel 2. Der Pizzo Gallina als Nachbar des Pizzo Nero und Ersatzziel scheitert schließlich vollends, als es darum geht, zu entscheiden, was für den jetzt im Rucksack behalten werden soll: Steigeisen? Pickel? Seil? Friends? Schlingen? … … … Ach, komm: Tiere, eindeutig Tierspuren! Und die weißen Flecken seh‘ ich kaum noch; dunkle Flecken – miniklein. Und die Sonne scheint auch schon auf den Grat, alles wirkt gleich freundlicher. Komm! 4a-Schlüsselstelle und der Rest 3irgendwas – auf geht’s! (Abbrechen können wir ja auch noch nach jedem Zipfel, wobei… – das ist für den Bären keine Option. Sack aufhängen in einer 3 – never!)
Beim Umkleideplatz – also oberhalb der Seen, als Maus und Bär sich mit Eisen an den Füßen und Händen bewaffnen – findet der Bär, dass die Grattürme schon viel weniger steil aussehen und auch insgesamt einen viel schneefreieren und trockeneren Eindruck machen als am gestrigen Abend. Das liegt bestimmt daran, dass es die Nacht wärmer war als die Nacht davor, philosophiert sich der Bär glücklich. Mit einem: „Das finde ich überhaupt nicht!“, schafft es die Maus, den aufkeimenden Optimismus und erste Anzeichen von Zuversicht mit einem Hieb zu zerschlagen. Wenn romantischer Idealismus und mathematische Berechnung zusammenprallen, wird nichts geschont. Also wieder von vorn: Tiere oder Abbrecher oder Tiere oder Abbrecher – … weiße und dunkle Flecken … Zipfel 2.
Abbrecher! – Diese Erkenntnis kommt uns, als wir in den vermeintlichen Tierspuren, die sich nun deutlich als Menschenfüße zeigen, zur Einstiegsscharte vor Zipfel 1 stapfen, wobei der erste eigentlich der zweite der sechs Zipfel ist, aber der erste wird laut dem Keepwild!-Topo wegen dem unlohnenden Grasbewuchs ausgespart. Naja, wegen der Menschenfüße: wer weiß, was das für Anfänger waren. Und außerdem: gestern sah’s ja doch wesentlich unwirtlicher aus als heute. Und dann, so denkt sich der Bär, wenn der Zipfel 2 wirklich nicht gehen sollte, steigen wir eben in der Scharte davor ab, umgehen ihn und steigen in der Scharte danach wieder auf und das Spiel geht mit Zipfel 3 weiter. Den Schönheitsfehler würde der Bär noch akzeptieren. Hauptsache nicht gekniffen und einen Sack aufgehängt. Hauptsache auf dem Gipfel irgendwann gelandet. Irgendwann… – das war wohl der vorherbestimmende Gedanke…
Steigeisen in den Rucksack, die Gartenharke außen dran gebaumelt – der Gedanken, was wohl im Sturzfall mit den Steigeisen am Rücken passiert oder ob sich der spitze Stiel der Gartenharke und der Nacken in irgendeiner Weise gefährlich nahekommen könnten – denken wir doch lieber an was anderes. Ein paar Meter gehen wir noch seilfrei von der Scharte Richtung Zipfel 1 – das Gelände erinnert an Allgäu nach Regen. Schöner brauner, weicher Dreck, ganz viele Moose und Gräser *hatschi* und dazwischen Felsbrocken in jeder nur denkbaren Position: geklemmt zwischen anderen Felsbrocken, freiliegend, in die Erde gespickt und solide, in die Erde gespickt und wackelnd… Warum hatten wir bei „Blockgrat“ nur eine andere Vorstellung gehabt? Zu der Vorstellung von den Steigeisenzacken im Rücken, dem spitzen Stil der Gartenharke im Nacken und der neuen Erfahrung, wie dehnbar die Bezeichnung „Blockgrat“ ist, gesellt sich dann noch die sogenannte „Pärchen-Last“. Das heißt: wenn du mit deiner Liebsten klettern bist, bist du immer auch ein Stück mehr besorgt um die andere als um dich selbst. Wenn du nur mit einem Kletterkumpel unterwegs bist – wenn der dabei draufgeht, da kommst du nach ein paar Jahren Psychotherapie mit großer Wahrscheinlichkeit drüber hinweg. Aber deine Liebste… Das ist gewaltig was anderes. Also Motto des Tages: Finde immer einen Top-Stand. Denn wenn du durch deine Blödheit irgendwo rauskachelst, überlebt wenigstens dein nachsteigender Schatz. Und dass der Schatz heute den Part in der Seilschaft übernimmt, der die größte Überlebenswahrscheinlichkeit hat – Nachsteigerin – das wurde schon vorab geklärt durch den dezenten Hinweis der Liebsten: „Muskelkater… von gestern…“ Also: Stand an (zumindest optisch) gut verankertem und schwerem Block, eingebunden, ab jetzt mit Seilsicherung weiter.
Zipfel 1. Sogar eine Abseilschlinge neueren Datums findet sich und hält die Blöcke, um die sie liegt, zusammen. Wie ein Gürtel verhindert, dass die Hose rutscht, findet der Bär, der sich mit Modeaccessoires ja auskennen muss. Wir seilen natürlich nicht ab. Ethisches Prinzip – wir wollen ja klettern und nicht abseilen. Also schön weiter gesichert von Zipfel 1 abgestiegen. Scharfes Grätchen hinab in die Scharte zu Zipfel 2. An kurzes oder gleitendes Seil, da denken Maus und Bär nicht daran. Zu luftig, zu viele wackelnde Blöcke und vor allem nordseitig zu viel nasse Erde. Und dann ja noch die Sache mit der Liebsten und den Zacken am Rücken/ dem Stil am Nacken. Der Blick fällt inzwischen auf Zipfel 2: im Topo eine rot gestrichelte Linie mitten durch. Vor uns: glatte Platte, 50 Meter breit, Wasser, Schneeflecken. Äh… 3b, 3b, 3b, nur 3b… Jetzt fängt der Bär schon an, Dreier nach a, b und c zu unterteilen… *kopfschüttel* Nachdem mit der 8-Meter-Kevlar genau in der Scharte drei Blöcke einge- und umfangen sind, von denen der Bär glaubt, dass sie bei daran ziehenden 83+46 Kilogramm immer noch stehen bleiben, sind zumindest die Sorgen um die Liebste erstmal aus den Gedanken gestrichen. Routenverlauf… so rein instinktiv: stiefeln durch die Bruchverschneidung rechts und dann die (nasse, schneefleckige) Platte weiter. ABER dann entdeckt der Bär auf der anderen, linken Seite dank seiner 120%-Sehkraft-Brille einen Normalhaken – und an dem soll ja die Route vorbeiführen. Na dann… Der Haken macht einen beunruhigenden Eindruck: während zwei krumme Drittel wie ein schlaffer Gartenschlauch aus dem verankernden Riss hängen, lässt sich das den Haken haltende (haltende?) eine Drittel lustig nach links und rechts bewegen. Keepwild!, denke sich der Bär und versenkt im Fingerriss nebenan noch einen Keil (der im Fall des Falles den Grounder auf das darunterliegende Band wohl aber auch nicht aufhalten wird). Mal nebenbei noch die Mikrotrittleisten abgeklopft – oh, klingt das beängstigend hohl. Das beruhigt gleich noch mehr… Fingerriss und Mikroleisten – so stelle ich mir eine 3b-Platte vor. Du dir doch auch. Ein paar steile Meter höher (eigentlich sind es nur Zentimeter) findet sich noch eine (auch hohl klingende) Schuppe: ausmessen – zwei Finger – zack – der rote Cam liegt perfekt. Plötzlich schleichen sich beim Bären schon wieder diese Gedanken ein: hohle Schuppe, Sprengwirkung… – erst ich, dann der Cam, dann die Schuppe, dann der Normalhaken und wir alle fliegen um die Wette, bis der Keil (oder das Band darunter) meine Fahrt stoppt, nicht aber die Fahrt von Cam, Schuppe und Haken… Kollision – *bäng!!!*
Na immerhin wäre ja die Maus an dem soliden Stand noch am Leben. Mit diesen mindestens comictauglichen Bildern im Kopf betrachtet der Bär seinen roten Cam (hinter der hohlen Schuppe) und das Gelände vor sich. An der Cassina Baggio wären die letzten 3b-Meter als 5c+ durchgegangen. Zurück geht nicht mehr, also vorwärts!, vorwärts!, darin liegt die Lösung und der Zwang. Mit bitterem Geschmack aber ohne Nähmaschine siegt der Überlebensinstinkt mit der Frage: Wo könnte es jetzt am leichtesten weitergehen? Der Riss und die Rampe aus dem Topo haben gerade ihre Tarnkappe übergezogen, nur die glatte Platte zeigt sich (ohne weitere Risse, aber nur Risse versprechen Lebensversicherungen) und mittendrin das beschneite Band. Vorsichtig geht es weiter in die Höhe, etwas im Bären hatte immerhin noch vor dem Normalhaken geklingelt und ihn die Kletterschuhe anziehen lassen. Hohle Mikroleisten mit Bergschuhen – da läge wohl schon wer auf dem Band… Links an der Kante wird das Gelände dann überraschenderweise zum Dreiergelände. Überraschend auch: 60 Meter aus. Ein Stand, an den sich zwei Leben hängen lassen, kommt dem Bären gerade nicht in die Quere, nur ein paar hohle Blöcke, die wie auch immer mit dem sie umgebenden steilen Fels verknüpft sind. Es fällt die schwere Entscheidung: Gleichzeitig klettern! Die Maus verlässt den sicheren Hafen in der Scharte. Die „Pärchen-Last“ will wieder präsent werden, doch da sind die Gedanken plötzlich mal weg: prüfen – wackelt nicht – weiter.
Zipfel 2. Kochtopfgroßer Felsbrocken mit Schlinge und darunter ein Normalhaken, diesmal echt solide aussehend. Staaand! Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn die Liebste will gerade in den „3b“-Fingerriss mit den knirschigen Cornflakes-Leisten einsteigen.
Bald stehen wir auf Zipfel 2. Zipfel 2! Die Ungewissheit vom Vortag ist bezwungen. Ach, wir sind schon zwei Stunden auf dem Grat unterwegs? Da sollten wir eigentlich schon auf dem Gipfel stehen… Na, im Rest, da geben wir dann aber mehr Gas. Bestimmt ein Topo-Fehler, das mit dem Normalhaken und daran vorbeiklettern, und wir sind drauf reingefallen… Allerdings, so müssen wir von oben erkennen: die leichter aussehende Variante über die Verschneidung und die Platten rechts wäre wohl komplett sicherungsfrei gewesen, hätte noch Schnee zu bieten gehabt und auf den wahrscheinlich ebenso knirschenden Leisten lagert so viel Schutt… Modetour scheint das jedenfalls nicht zu sein… Ausbildungstour… Eieiei…
Der Abstieg von Zipfel 2 – okay, auch da wackelt viel und die Erde und das Gras – aber immerhin: so stellt man sich doch einen leichten Grat vor.
Derweil zieht Zipfel 3 die vom Adrenalinrausch noch fiebrigen Blicke immer wieder auf sich. 4a-Schlüsselseillänge. Also im Vergleich zur Fingerriss-Mikroleisten-3b noch eine Steigerung. Prost!, denkt sich der Bär, essen kann ich vor der Länge besser noch nichts. Und wo geht es da durch? Den komplett mit Gras zugewachsenen Riss hoch? Ist nicht euer Ernst… Immerhin: die „Pärchen-Last“ fällt schon mal ab, als sich fünf Meter über der Scharte vor Zipfel 3 ein wirklich gigantischer Block finden lässt. Wenn der 83+46 Kilogramm nicht hält, dann hält uns nichts! Unsicher tappelt der Bär weiter voran – wirklich der grasige Riss? Direkt hoch? Oder nicht doch links bei dem kleinen Dach – ne, sieht schwerer aus. Ein bisschen Gequere noch nach rechts raus, mal schauen, wie sich dort das Gelände präsentiert – ne, sieht auch schwerer aus – also wieder zurück: Grasriss! Pobacken zusammen, wer wird sich schon von einer 4a (in Worten: VIER A) abwerfen lassen. Und der Grasriss wird dann doch dankbarer, als optisch vermutet. Richtige Graspolstertritte hat der, die Keilchen und Cams stecken sogar mal in soliden Rissstellen und die Schlingen liegen auch über verlässlich erscheinenden Blöcken. Derartig getunnelt auf Placements übersieht der Bär sogar den einen Normalhaken – schon der dritte Haken in der gesamten Tour. Der Bär eben – keepwildiger! als keepwild! und ignoriert auch noch den Normalhaken in der Schlüsselseillänge. Ein wahrer Held… ;-) Staaand! Ich will‘s nicht so recht über die Lippen bringen, aber der Riss war schon fast schön. Und so gut abzusichern… Und bedeutend leichter als die 3b an Zipfel 2, findet die Maus und ich muss ihr Recht geben.
Das war‘s! Maus und Bär sind in Feierlaune. Jetzt noch ein bisschen Grat und Zipfel 4 ohne Schwierigkeitsangabe und dann Zipfel 5 gleich Gipfelzipfel mit einer Easy-3a-Platte. Der Gipfelzipfel, das war der Zipfel, der gestern Abend beim Abtasten des Grates mit den Augen am harmlosesten wirkte. Wir haben‘s gleich!
Der Grat geht so weiter, wie man sich einen leichten Grat vorstellt: Blöcke, leicht geneigt. Da sprinten wir gleich am gleitenden Seil entlang. Ohne Schlingen dazwischen, versteht sich. Die grasige Platte auf Zipfel 4 – ein Witz ist die. Aber – Bär, ermahne dich selbst – nur nicht übermütig werden: ein Cam und eine Schlinge auf den 40 Metern wird versenkt. Zipfel 4. Staaand!
Und der Mund klappt auf, aber nicht mehr zu. Vor uns: Zipfel 5, der Gipfelzipfel. Mhhh, da ist er wieder, der bittere Geschmack. Also da soll es irgendwo für 3a hochgehen? Das scheint auch der Maus schwer einleuchtend. Topo: rot gestrichelte Linie, „direkt über Platten, 3a“. Ohhh-kay… Wieder findet sich in der Scharte etwas für 83+46 Kilogramm. Von der „Pärchen-Last“ befreit. Immerhin. Aber so kurz vor dem Gipfel fängt der Bär doch an, auch an sich selbst zu denken und er will da hoch. Also auf den Gipfel. Lebendig natürlich und in einem Stück. Na schön. Diese eine Länge trennt uns jetzt noch vom Gipfel. Und nach dem ersten Drittel leuchtet rechts was. Ein letzter (vierter) Haken? Der Start: hohle, große Platten. Ein Traum in Alb. Die Vorstellung schleicht sich in den Kopf des Bären, wie er auf und mitsamt so einer Platte Richtung Stand rutscht. Da kann er sich ein Lachen nicht verkneifen und ergreift schnell die nächste Platte. Und dann wird’s steil und die Platte ist nur noch eine einzige Platte. Gigantisch breit – für Gratverhältnisse. Wie sich die von der Katze verfolgte Maus fragt, wo zum Teufel denn jetzt das rettende Loch ist, so prüft der Bär, wo er am leichtesten durch diese Platte kommt. Ihm schwant allerdings schon, dass für 3a (jetzt differenziert der Bär schon wieder Dreier in a, b und c – herrje) hier wohl nichts zu haben sein wird… Der Normalhaken ist inzwischen überstiegen, der rote C4 will nicht so richtig passen. Eine Backe zu viel. Blöd…, aber der Bär verwurschtelt ihn trotzdem in den Riss am Beginn einer tritt- und grifflosen Verschneidung mit Gras im Verschneidungsgrund. Drei Meter Verschneidung – und dann vielleicht diese Henkelschuppe rechts ansteuern, die könnte die Rettung sein. Oder? Wir unterhalten uns – nicht ich mich mit dem Bären oder der Bär mit der Henkelschuppe, sondern der Bär mit der Maus am Stand. Im Nachhinein weiß keiner mehr, was gesagt wurde. Drei Meter Verschneidung, keine Griffe und Tritte, der rote C4, der nicht so richtig passen will, die Henkelschuppe da oben rechts… Nach reichlich Bedenkzeit – die Entscheidung: keine Verschneidung, keine Henkelschuppe, stattdessen die rechte Kante. Oh, wie hier alles wackelt… Der Gedanke im Kopf des Bären: Würde der rote C4 halten oder würde ich schon vorher pendelnd in die Schlucht rechts von mir aufschlagen, bevor der C4 die Chance hat, überhaupt seine Haltekraft unter Beweis zu stellen? Der Bär kommt an der Henkelschuppe vorbei. Gerade will er an ihr ziehen – oh du mein rettender Anker – da stellt er fest, dass die Henkelschuppe nicht nur hohl klingt und sandig aussieht, sondern nur locker an den Fels gelehnt ist. Da verzichtet der Bär jedenfalls darauf, sich an diesem „rettenden Anker“ festzuhalten, wirft aber trotzdem eine Schlinge über diese Schuppe, die jetzt keine Henkelschuppe mehr ist. Erstbegehergefühle kommen auf, denn die Frage scheint berechtigt: Ist hier jemals schon jemand menschliches entlanggestiegen? Das Karussell im Bären-Kopf dreht sich schon wieder: erst ich, dann die sandige Schuppe mit der Schlinge, dann der rote C4. Wir alle fliegen um die Wette, dann stoppt vielleicht der silbrig glänzende Normalhaken meine Fahrt, nicht aber den Weiterflug von Schuppe, Schlinge und dem roten C4 – *bäng* – und dazu noch die Spitze des Gartenharkenstils im Nacken und die Steigeisenzacken im Rücken…
Von der Sandschuppe an der Kante will sich der Bär wie der Elefant aus dem Porzellanladen wieder in die Platte zurück flüchten, Reibung ist schließlich seine Lieblingsdisziplin. Ein bisschen Fühlerei an den grasdurchsetzten Leisten auf der Platte ergibt dieses Geräusch: *krchk* – ein Warnsignal, das du hörst, bevor als nächstes bei weiterer Gewalteinwirkung das festgehaltene Felsstück mit dir abplatzt. Und das Karussell dreht sich schnell weiter: statt den Phantasien, wer mit wem um die Wette fliegt und was mit wem letztendlich kollidieren wird, badet der Bär jetzt intensiv in der Vorstellung dieses Sekundenbruchteils, nachdem es unter dem Fuß unerwartet *krchk* gemacht hat und man realisiert, dass man im folgenden Sekundenbruchteil den Abgang machen wird. In diesem Moment des Realisierens, den man vielleicht auch ohne Schönfärberei als „Ach-du-Scheiße“-Moment bezeichnen könnte, badet der Bär. Intensiv. Und wieder zurückspulen und nochmal…
Verfolgt von dieser Endlosschleife, lässt der Bär die Finger von der Leistenplatte und bleibt weiter an der Kante. Das kleinere Übel eben. Subjektiv betrachtet. Dann endlich ein Block solider Natur – yippie! – Minirampe und *tata* Gipfel! Die nachsteigende Maus wird instruiert, wovon sie besser die Finger lässt und wo sie mal gut dranbleiben muss, denn mittlerweile kreist im Kopf des Bären schon die nächte Vorstellung, wie die sandende Schuppe fallbeilartig die dünne Nabelschnur aus Polyamid zerhackt. Als die Maus daran vorbei ist, sieht der Bär gleich die rasiermesserscharfen Zacken, über die das Seil an der Kante läuft, und das Grauen blinkt ein letztes Mal wie das Blaulicht eines Rettungswagens. Hätte der Bär mal besser nicht den alten Gammelstrick mitgenommen, sondern was Neueres… Wegen der Scharfkantenbelastungsfestigkeit…
Dann ist es vorbei. Wir fallen uns nicht in die Arme, jubeln nicht laut, wir sacken nur nieder. „Berg heil!“ – „Berg heil!“ Sechs Stunden (statt der versprochenen zwei bis drei) auf Adrenalin, da fühlt man sich und isst und trinkt nur noch wie ein Urmensch. Wobei: wenn eine was vor sich hinmurmelt, so was wie „Halbtagestour“ oder „3a“ oder „Ausbildungstour“, dann muss der andere lachen.
Der Abstieg über den Westgrat – dreißig Minuten laut Kletterführer. Nach der ausgedehnten Performance auf dem Südgrat kalkulieren Maus und Bär schon mit zwei Stunden, doch diesmal halten wir die dreißig Minuten tatsächlich ein. Na also, geht doch. Selbstzweifel schon mal erfolgreich gelöscht. Der Weiterweg vorbei am kleinen See, den Schafen und den Soldanellen-Wiesen. Den ganzen Tag keinem Menschen begegnet außer uns selbst und unseren eigenen Abgründen. Keepwild! Wir haben es geschafft – ohne Spuren zu hinterlassen… (also ohne das kleinste Stück Fels umzulagern ;-) ).
Eine Frage brauchen sich Maus und Bär nicht zu stellen: Wollen wir Derartiges weiter und wieder klettern? Für eine Antwort auf diese Frage ist es noch viel zu früh. Keepwild! (im morschen Fels) ist Abenteuer und Abenteuer ist immer mit höherem Risiko und ungewissem Ausgang verbunden. Abenteuer kann man nicht am laufenden Band konsumieren. Aber bei Abenteuern erinnert man sich noch Jahre später an Details zurück, an einzelne Griffe oder Tritte, Geräusche, Gerüche und das gemeinsame Erlebnis schweißt zwei Menschen unglaublich zusammen. Bei Bohrhaken-Genussklettereien bleibt nur das Gefühl des Genusses haften. Mehr meist nicht.