Orpierre: beau, joli oder magnifique? Tasten wir uns mal ran…
Orpierre – die dunkle Seite.
(die güldene funkelt im oberen Text ;-) )
Or-pierre – Gold-Stein. Aber eigentlich müsste es ja Plomb-pierre heißen – Blei-Stein, weil Blei wurde vor Urzeiten hier mal abgebaut, kein Gold. Gold suchte und sucht man vergeblich. Wobei… – na, oben verrate ich dir mehr vom Gold.
Jedenfalls vom Örtchen Goldstein hatte der Bär vor gefühlt Jahrzehnten mal was gelesen, als er noch Besucher von Bahnhofskiosken war, um dort regelmäßig für umme die Kletterzeitungen auf der Suche nach tollen Techniktipps (damals schrieb man noch TechniktiPs) mit Marietta Uhden zu durchforsten. Und ich kann dir nicht sagen, warum, aber von diesen hunderten von gähnend langweiligen Gebietsvorstellungen, von denen diese Heftchen ja heute noch leben, wenn es sie denn noch gibt, jedenfalls von diesen hunderten von gähnend langweiligen Gebietsvorstellungen war nur Orpierre hängengeblieben. Das ist doch merkwürdig, was? Eine Erklärung dafür hat der Bär nicht. War’s einfach Vorhersehung oder lag‘s daran, dass damals ein Kletterkumpel vom Bären Pierre hieß? Es bleibt rätselhaft und merkwürdig.
Kurz: alles hatte sich im Bären gesträubt, nach Orpierre zu fahren. Bis zum letzten Augenblick werden die Wetterberichte studiert, mit den Webcams von Nord nach Süd, von Ost nach West und zurück und wieder von neuem rasant gereist. Doch da ließ sich nichts machen. Kaltfront, Schnee ab 1500 Meter – da brauchst du keine langjährig anstudierten Wetterkenntnisse, um zu der Einsicht zu gelangen, dass Klettereien auf 3000 Metern über Null erstmal beerdigt sind. Und die flachen Drücke und Gewitter kamen als Bonus noch obendrauf. Was also anfangen mit den fünf Tagen Zeit?
Und weil der Bär ein so schlechtes Gewissen hat, dass er so lange nicht mehr Französisch in Frankreich palavert hat, geht’s also doch nach Orpierre. Und: weil dort das Wetter schön zu werden verspricht. Darum vor allem. Orpierre – Goldstein.
Auf dem Zeltplatz angekommen, bestätigt sich natürlich genau das, was den Bären den Angstschweiß auf die Stirn treibt: Pfingstferien in Süddeutschland, also läuft man auch noch Landsmännern und -frauen und -kindern über den Weg. Und das in Frankreich, in meinem Frankreich… Dem abendlichen rituellen Dialog-Monolog à la: Und, welche Route habt ihr heute gezogen (interessiert mich eigentlich gar nicht, ich will dir nur schnell erzählen, was ich heute nach dem zwanzigsten Mal auschecken, was ich dir gegenüber jedoch verschweige, tolles gepunktet habe), diesem Schw..z-Vergleich entgehen wir, indem wir unser Zelt genau zwischen zwei Franzosenzelte stellen (Punkt). Und da die denken, dass wir außer „Bonjour“ sowieso nichts sagen oder verstehen können, womit sie vielleicht auch nicht so unrecht haben, und sie außerdem tierisch genervt zu sein scheinen, dass hier mitten in der Woche sich so ungeniert viele Allemands rumtreiben, beschränkt sich unsere Kommunikation auf Bonjour (nach 17.00 Uhr ignorieren wir uns komplett und wir haben keine Chance, sie mit einem Bonsoir davon zu überzeugen, was wir für gewiefte Sprachfüchse sind). Du musst also nur in die falschen Gebiete fahren, dann lernst du endlich auch Franzosen kennen, die dich nicht gleich in ihr Herz schließen wollen. Orpierre – Goldstein…
Unser Gefühl mangelnder französischer Gastfreundschaft – selbst die Verkäuferin im lokalen Lebensmittelladen hatte noch nicht mal ein Lächeln auf unser „Bonne journée !“ übrig – jedenfalls dieses Gefühl mangelnden Was-auch-immers versuchen wir dadurch zu kompensieren, dass wir mit unserer Einsterne-Platz-Berechtigung die Klos und Duschen der Viersterne-Platz-Bezahler konsumieren. Denn obwohl auch diese nicht immer die Bürste verwenden und das Wasser des Öfteren mopslau ist – das gehobene Ambiente wird durch feinste Diana-Krall-Gesänge hergestellt. „Wie in einem Reichenclub.“, meint die Maus während ihr die Zahnpasta aus dem Mund tropft. „I lost my mind in a wild romance.“, singt Diana vierundzwanzig Stunden nonstop. Für dieses Gefühl nehmen wir selbst für den kleinsten Toilettengang gern die weite Wanderung vom Einsterneplatz zum Viersterneklo auf uns. Erst am fünften Tag wird’s zunächst witzig, dann nur noch nervig. Auf dem Klo und dann I lost my mind… – pah. Aber da reisen wir ja auch schon wieder ab.
Die Menschen auf einem Zeltplatz, der 40 Minuten zu Fuß von einem Felsen entfernt ist (was manchen dennoch nicht abhält, ein paar Meter mit dem Auto noch näher ranzufahren), die Menschen jedenfalls sind natürlich auch so, wie sie der Bär hasst, egal welcher Nation: Demonstratives Unterarm-Dehnen mit freiem Oberkörper, Daunenjacke bei 20 Grad und vierzehn Exen gleicher Marke frisch poliert am Gurt. Oder der Typ unrasierter 8a-Mover auf Kletter-Roadtrip mit freilaufender und überall rumschiffender Töle, dem E9-Aufkleber am Bus und dem Büchsenbier am Abend, aber auch in Daunenjacke bei 20 Grad. Schon am ersten Abend fragt sich der Bär, ob das mit dem Goldstein so eine tolle Idee war, weil sich gerade alle negativen Vorurteile zu bestätigen scheinen, und ob es nicht doch besser gewesen wäre, unter dem Neuschnee und bei zuckenden Blitzen in aller Einsamkeit vergeblich fünf Tage nach Kletterfels auf 3000 Metern zu suchen. Orpierre ist eben nicht Bergstille, die Erkenntnis trifft den Bären wie die Faust das Auge. Und dazwischen sitzen wir, inzwischen auch mit Daunenjacke, und während der Klappstuhl unter des Bären Last sperrmülltonnenreif kollabiert, kommt mir in den Sinn, ob wir nicht auch so ein Teil dieser undefinierbaren Maschinerie namens Outdoor-Kletter-Community mit ihrem Style sind, auch wenn bei unseren zwölf Exen jede aus einem anderen alpinen Fundgebiet zusammengesammelt ist. Das beste Klettergebiet der Welt ist eben das, wo du den Tag erwischst, an dem du keinem anderen Kletterer begegnest. Punkt. Ist es das also wert? Und jetzt: siehe oben.